Von der Kindeswohlgefährdung zur Kindeswohlerhaltung – Prävention und Intervention

Emotionale Vernachlässigung ist die häufigste Kindeswohlgefährdung.

Der Begriff „Kindeswohl“ bezeichnet das gesamte Wohlergehen eines Kindes oder Jugendlichen und umfasst zudem seine gesunde Entwicklung. Die Anzahl der gemeldeten Fälle von Kindeswohlgefährdung hat im Verlauf der vergangenen Jahre kontinuierlich zugenommen (BDP, 2022; Statistisches Bundesamt, 2022). Die Corona-Pandemie hat diesen Trend allerdings weder aufgehalten noch verstärkt. Das Wohl der Kinder wird seitdem aber vermehrt in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Das Wohl eines Kindes ist untrennbar mit seiner psychischen Gesundheit verbunden. Das Risiko, als Kind oder Jugendlicher eine psychische Störung zu entwickeln, wird nicht nur von genetischen Faktoren beeinflusst, sondern auch von sozialen. Typische Risikofaktoren sind psychische Erkrankungen eines Elternteils, der Umstand, dass ein Elternteil alleinerziehend ist, ein niedriger Bildungsabschluss der Eltern und ein niedriger sozioökonomischer Familienstatus.

Arten, Konsequenzen und die Rolle des Familiensystems

Im Allgemeinen werden vier Arten der Kindeswohlgefährdung unterschieden. Vernachlässigungen (58 %), psychische Misshandlungen (34 %), körperliche Misshandlungen (26 %) und sexuelle Gewalt (5 %). Dabei sind emotionale Vernachlässigungen am schwierigsten nachzuweisen. Hierbei handelt es sich z. B. um Liebesentzug, oder das Verwehren von Nähe, Wärme oder Anerkennung.  Diese Defizite sind schwer zu belegen, wobei genau diejenigen statistisch am häufigsten auftreten.

Solche Defizite lösen in Ihrem Kind Stress aus und stellen einen signifikanten Risikofaktor für eine spätere Depressivität (Diathese-Stress-Modell) dar. Psychologen werden in der Regel mit Symptomen konfrontiert, die häufig als störend oder auffälliges, beobachtbares Verhalten beschrieben werden. Hierbei handelt es sich zumeist aber um kreative Verhaltensweisen, die für Ihr Kind einen Versuch darstellen, Stress zu regulieren. Hierbei können Kinder niemals losgelöst vom Familiensystem betrachtet werden. Obwohl dies zumeist unbewusst geschieht, tragen sie sämtliche Spannungen und ungelöste Konflikte ihrer Ursprungsfamilie mit. Nicht selten reichen diese über Jahrzehnte in der Ahnenreihe zurück. Durch das Mit- und Austragen von Symptomen entlasten die Kinder und Jugendlichen das Familiensystem, indem Sie die Aufmerksamkeit weg von der eigentlichen Spannung, hin zu ihrem Symptom lenken.

Psychologische Herangehensweise

In einer lösungsorientierten Herangehensweise werden beobachtbare Symptome als Versuch verstanden, das Problem zu lösen. Depressivität als Hinweis auf erlernte Hilflosigkeit verhindert allerdings jegliche Art von Veränderung. Empfehlenswert ist es stattdessen funktionale Aktivitäten auf die Zukunft hin auszurichten, um Hoffnung und das Erleben von Selbstwirksamkeit zu vermitteln.

Psychologische Expertise kann dabei helfen:

  • Die Entstehung und das Aufrechterhalten menschlichen Verhaltens zu verstehen
  • Wissen über Risiko- und Schutzfaktoren zu vermitteln
  • Wissen um Entwicklungsprozesse zu vermitteln (saluto- oder pathogenetisch)
  • Soziale und kommunikative Kompetenzen zu stärken
  • Verbindlichkeit und Verlässlichkeit zu erleben
  • Strukturierungsfähigkeit und Kreativität zu stärken
  • Lösungsorientierung zu bieten etc.

Unser Nachwuchs zählt initial zu den schwächsten Gliedern unserer Gesellschaft und es bedarf für ihn an ausreichender Unterstützung bei der Erlangung von Fähigkeiten. Wir schützen die nachkommende Generation, indem wir ihr als bedeutsame Bezugspersonen beständiges Interesse zeigen. Hierzu braucht es Geduld, Unvoreingenommenheit und Orientierung. Nur wenn unsere Kinder stetig erfahren, dass sie Bedeutung haben, von anderen geachtet werden und die Möglichkeit haben selbst Einfluss zu nehmen, sind sie geschützt. Sie sind bei ihrer Identitätsentwicklung auf diese Hilfe von Extern angewiesen. Dies hilft ihnen, Glück und Zufriedenheit durch das Lösen von Problemen zu erleben.

Wie können Kinder und Jugendliche sich selbst schützen?

Kinder sollten darin gestärkt werden, ihrem eigenen Empfinden zu vertrauen. Sich abzugrenzen und „nein“ zu sagen oder sich jemanden anzuvertrauen, wenn es sich schlecht anfühlt. Wir sollten uns als vertrauensvolle erwachsene Bezugspersonen als aktiver Kinderschutz anbieten, oder zumindest auf Erwachsene verweisen, denen sie vertrauen können.

Wie gestalten Sie den Kontakt zu einem Kind oder Jugendlichen?

Es gibt 5 Sätze (und noch viele mehr), die Kinderohren brauchen und von denen es kein „zu viel“ oder kein „zu sehr verwöhnen“ gibt.

  1. Ich hab dich lieb!
  2. Ich glaube an dich!
  3. Gut gemacht!
  4. Du bist etwas Besonderes!
  5. Ich bin stolz auf dich!

Kinderschutz fängt bei den Erwachsenen an!

Kein Kind sucht sich seine Eltern aus. Geht es den Ihnen als Eltern gut, kann es ihren Kindern nicht schlecht gehen. Die Verantwortung für unsere Nachkömmlinge lastet auf den Schultern, die sich vernunftbegabt dafür entschieden haben. Sie als Erwachsene sollten bereits wissen, wie Probleme zu lösen sind.

Psychologen werden in der Regel mit Problemlagen konfrontiert, deren Lösung nicht direkt auf der Hand liegt. Hier geht es vor allem darum, Komplexität zu reduzieren und das dargelegte Anliegen in seinem Kontext zu verstehen. Im würdevollen Umgang mit der betroffenen Person oder der Familie, bewahren Experten sich das Bewusstsein, dass alles auch ganz anders sein könnte. Für eine neue Zukunftsvision ist eine vertrauensvolle Beziehung der Grundpfeiler. Es geht darum, die Familiensysteme mit neuen Fähigkeiten auszustatten, um das Kontrollbedürfnis (vor allem auch der Kinder) zu befriedigen und Selbstwirksamkeit zu vermitteln. Gelegentlich geht es auch um das Vermitteln korrigierender Erfahrungen. Dabei muss ein Scheitern erlaubt sein, denn aus Fehlern kann am meisten gelernt werden. Es gilt dann Hindernisse für das Erreichen der Ziele gemeinsam zu analysieren. Niemals werden Entscheidungen gegen den Willen des Kindes getroffen.

Eltern sind in der Beratung genauso Experten wie die beratende Fachkraft. Dies gilt für alle Screening-Verfahren zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität der Kinder, sowie zu psychosozialen Verhaltensauffälligkeiten. Wem sonst als den Eltern als Hauptbetreuende könnte hier mehr Expertise zugesprochen werden? Psychologen und die Bezugspersonen des Kindes begegnen sich also auf Augenhöhe. Die Bezugspersonen sollen gestärkt werden und zu selbstbewussteren, verantwortungsvolleren Eltern gemacht werden. Hierbei wird sich auf die Stärken des Familiensystems konzentriert, um die Entwicklungsfelder auszugleichen.

Wann ist eine Intervention sinnvoll und wie wird sie erfolgreich?

Interventionen sollten möglichst frühzeitig geplant und umgesetzt werden. Idealerweise auch um die Eltern selbst wieder in die Lage zu versetzen, ihre Erziehungsverantwortung wahrzunehmen. Und für die Kinder und Jugendlichen geht es darum, alternative Sichtweisen und Maßstäbe zu bilden. Dies geschieht mitunter ganz nebenbei und unbewusst. Für einen Erfolg der Intervention oder der therapeutischen Maßnahmen kann nicht auf das Committment und die aktive Mitarbeit (Compliance) der Eltern verzichtet werden. Denn die größten Veränderungen geschehen nicht in den Beratungsstunden, sondern in der Zeit zwischen den Sitzungen. Eine weitere Voraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung ist, dass die Ziele „S.M.A.R.T“ vereinbart werden (spezifisch, messbar, attraktiv, realistisch). Die Verminderung von Risikofaktoren hat hier eine besonders hohe Bedeutung (familiärer Stress, fehlende Strukturen im Tagesablauf, fehlendes Wissen über die Bedürfnisse des Kindes oder mangelnde Empathie). Im gleichen Zuge sollen vermehrt Schutzfaktoren aufgebaut werden (soziale Unterstützung, Erweiterung kommunikativer Fähigkeiten, Problemlösekompetenz, emotionale Entlastung, körperliche Entspannung). Zusätzlich sollten Verstrickungen im Familiensystem erkannt und aufgedeckt werden. Weitere wichtige therapieunterstützende Maßnahmen sind die Gestaltung von Alltagsstrukturen, das Durchführen von psychoedukativen Einzel- und Gruppensitzungen, u. a. zu Gesundheitsthemen, sowie das therapeutische Anwenden und Vermitteln von Entspannungsverfahren und Stressmanagement. Für die psychologischen Fachkräfte ist außerdem eine Supervision im Team empfehlenswert.

Autorin:
Sonya Anders, Psychologin
M.Sc. Angewandte Psychologie (Klinische Psychologie)
https://www.yourxpert.de/xpert/psychologin/sonya.anders